2010 · Hamburg · Media


Das Bildnis Erna Thomsen

Neue Sachlichkeit auf St. Pauli

Ein Film von Jana und Pavel Lavrov · 2010 © Studio Hamburg


NDR Hamburg Journal

1. Hamburger Ein-Bild-Ausstellung · Zum Silbersack

Von Susan Tratz · 27.08.2010 © NDR

Photography

2010

Manfred W. Jürgens

2010


25. August 2010 · Hamburger Abendblatt · Diana Zinkler

Bild mit Seele

Erna Thomsen ist Gastwirtin in Hamburgs berühmter Kneipe Zum Silbersack auf St. Pauli. Seit 61 Jahren.

Der Maler Manfred W. Jürgens entdeckte sie als Modell und malte sie in Öl. Warum? Weil sie eine starke Frau ist!


Hamburg

Das Sparschwein auf dem Tresen ist von Ole von Beust. Das ist jetzt schon elf Jahre her. Damals hat er es Erna Thomsen zum 50. Silbersack-Jubiläum geschenkt. "Seitdem ist Ole aber kaum noch da gewesen", sagt die kleine Frau hinterm Tresen. Zwischen dem Schwein und heute war von Beust neun Jahre lang Hamburgs Bürgermeister. "Früher war er oft hier, aber jetzt würden ihn zu viele Leute ansprechen. Das hat er nicht so gern", sagt Erna Thomsen, ebenjene Frau hinterm Tresen, Inhaberin und Gastwirtin der Kneipe Zum Silbersack, in der Silbersackstraße, nahe der Reeperbahn, auf St. Pauli. Sie steht hier, nicht direkt in der Mitte des Tresens, sondern vom Betrachter aus gesehen etwas weiter links, weil sie dort besseren Zugang zu den hinteren Räumen hat. Seit 61 Jahren. Gerade, aufmerksam, immer mit etwas Rotem bekleidet, stetig. Neun Jahre oder elf sind da nur eine Episode. Zeit ist mächtig im Silbersack.

Vor acht Jahren kam Manfred Wilfried Jürgens zum ersten Mal in die Kneipe, nach einem Besuch im St.-Pauli-Theater. Stand vor der Theke und sagte zu seiner Begleiterin: "Wahnsinn. Die Frau. Die will ich malen." Ihr Blick, ihre Ruhe, ihr Alter. Alles sehr beeindruckend für einen Neuling, der er damals war. Doch mit dem Blick des Künstlers sah er noch mehr. Eine Vision, eine Matrone, eine Ikone. Endlose Zeit, makellos. Rot, papstrot. Die Seele der Kneipe. Was sind schon vier Stunden im Mittelpunkt gegen ein ganzes Leben.

Heute, wieder an einem Abend, steht eine Ausstellung bevor. Die erste Hamburger Ein-Bild-Ausstellung: "Das Portrait Erna Thomsen des Malers Manfred W. Jürgens". Morgen, am Donnerstag, wird das Bild für vier Stunden, von 20 bis 24 Uhr, im Silbersack, an der rechten Wand, über einem der mittleren Tische, ausgestellt sein. Angestrahlt mit Scheinwerfern, damit die Farben auch gut leuchten und Erna Thomsens Augen mit ihrem durchdringenden Blick vom Bild aus den Laden überschauen können. Für vier Stunden gibt es dann zweimal Erna Thomsen im Silbersack. Porträt, Abdruck der Seele, wie Künstler sagen, und das Original. Aber was sind schon vier Stunden. Nicht mal eine Nacht.

Es gibt Gäste, die kommen um 17 Uhr und gehen am Morgen um fünf. Trinken Bier, für 1,90 Euro die Flasche. Dazwischen mal was Härteres. Reden, küssen, umarmen sich, finden sich schön, verziehen sich zum Fummeln nach draußen oder auf die Toilette, um dann da weiterzumachen, wo der letzte Drink stand. Reden weiter im Nebel des Zigarettenqualms. Rauschen durch die Stunden, in denen man sie vielleicht schon zu Hause erwartet hätte.

Erna Thomsen steht heute mit 86 Jahren nicht mehr die ganze Nacht am Tresen. Höchstens mal drei Stunden. Rente mit 67 wirkt hier lächerlich. Manchmal zieht sie sich zurück in ihre Wohnung oder auch nur auf den Platz in der Bank in der rechten Ecke. Wieder ein Platz mit Überblick.

Sie sitzt da und trinkt Wasser mit wenig Kohlensäure. "Bier habe ich in meinem Leben noch nicht eins getrunken. Eher mal ein Glas Sekt, einen Eierlikör oder ein Glas Champagner." Die Flasche kostet 90 Euro im Silbersack, wird nicht häufig verlangt. Aber auch. Es ist 20.52 Uhr, die Musikbox, die schönste von ganz Hamburg, wie Stammgast und Schauspieler Ulrich Tukur ihr zum 50-jährigen Bestehen der Kneipe einst versicherte, spielt "Mendocino", gesungen von Michael Holm. Es ist die Nummer 154 und der Tresen ist schon besetzt mit einer Gruppe aus Köln. Am Tisch am Eingang sitzt ein Paar aus Süddeutschland. Er, Mitte 50, elegant in Blazer und sie ganz in Weiß. Die beiden staunen, weil die Kölner schon kurz vor 21 Uhr zu tanzen beginnen, erst Paartanz, dann im nächsten Lied schunkeln und singen: "En unserem Veedel" von Bläck Fööss. Ist nicht hamburgisch, aber Erna Thomsen sind solche Sachen egal, sie würde nie sagen: Gehört sich nicht oder zumindest nicht hierher. "Ich freu mich, wenn gefeiert wird." Sie sagt das ernst. Denn wer feiert, trinkt, und das ist gut fürs Geschäft. Egal ob nun Student, Geschäftsmann, Schauspieler oder Tourist.

Bier habe ich in meinem Leben noch nicht eins getrunken. Eher mal ein Glas Sekt, einen Eierlikör oder ein Glas Champagner. Erna Thomsen, Gastwirtin.

Auch, und das ist eine alte Geschichte, die sie eigentlich gar nicht preisgeben will, dass einer wie Filmstar Hans Albers nicht immer zahlen wollte. "Nur wenn er betrunken war, sonst immer." In den 50er-Jahren, den Anfangsjahren des Silbersacks, trank er hier regelmäßig, stand meist rechts am Tresen mit Bier und Schnaps. "Lütt und Lütt", 0,1 Bier und 1 Kümmel, für 45 Pfennig waren beliebt. Es war die Zeit, in der in den Toilettenräumen noch Lippenstifte, Strumpfhosen, Kondome und verbotenerweise auch Pornohefte verkauft wurden. In welcher der Silbersack 30 Angestellte hatte und die Crew zwecks Betriebsausflugs im Jahr 1951 nach Ratzeburg fuhr, durch den kleinen Ort spazierte und "Aber eins, aber eins, das bleibt bestehen, der Silbersack wird niemals untergehn" sang.

Damals war ihr Mann Friedrich noch dabei. Zusammen eröffneten sie am 25. Juni 1949 den Silbersack. Nach dem Krieg lagen viele Gebäude in Hamburg in Trümmern und an eine Fläche zu kommen war schwer. Das Grundstück an der Silbersackstraße konnten sie zunächst pachten und bauten dort ein Holzhaus. Das Material bezahlten sie dem Förster in Naturalien. "Ich glaube, er hat damals einen Eimer Honig und ein Fahrrad bekommen", erinnert sich Erna Thomsen. Ein Holzhaus ist die Kneipe heute noch immer, nur später wurde sie ummantelt mit Stein. Erna Thomsen klopft an die Vertäfelung des Lokals, wie um zu beweisen, dass alles immer noch so ist. Fest steht.

Ihr Mann starb 1958 an Krebs. Sie blieb zurück, mit drei Kindern. Uwe, Gerd und Heidrun. Haben Sie nicht daran gedacht, aufzuhören? "Nie. Ich hatte ja drei kleine Kinder." Erna Thomsen schüttelt den Kopf. "Früher galt doch: Vogel friss oder stirb. Da gab's nichts anderes." Unterstützung wie Sozialhilfe hätte sie nicht beantragt. Sie hatte doch die Kneipe. Und die Kinder lebten, bis sie zehn Jahre alt waren, auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Rethen bei Braunschweig. Von dort kam auch der Honig, mit dem sie in den Nachkriegsjahren das eine oder andere tauschen konnten.

Die Kölner hören jetzt "Die Karawane zieht weiter" von De Höhner. Es ist 21.15 Uhr und die Stimmung ausgelassen. An einem Wochentag. Erna Thomsen blickt zufrieden.

Vergänglichkeit und Zeit können dem Silbersack nichts anhaben.

Auch Hildegard Knef besuchte den Silbersack. Der französische Film "Das Mädchen aus Hamburg" von Regisseur Yves Allégret wurde hier gedreht und feierte 1958 im Passage-Kino Premiere. Hildegard Knef war das Mädchen. In der Kneipe fiel sie auf, weil sie so stark geschminkt war.

Im Ölbild vom Maler Jürgens stehen Blumenvasen auf der Theke, einige Rosen lassen den Kopf hängen, sind verwelkt. Erna Thomsen daneben steht aufrecht. Jürgens sagt: "Die Blumen stehen für die Vergänglichkeit und den Tod, den ich auch immer in meine Bilder einbringe." Doch Vergänglichkeit und Zeit scheinen etwas zu sein, das Erna Thomsen und dem Silbersack nichts anhaben kann. Unverändert wummert jeden Abend die Musik auf die Silbersackstraße, wo es früher einen Bäcker gab, zwei Blumenläden und zwei Friseure. Eine kleinbürgerliche Vorstellung, die mit der Gegenwart der Straße nichts mehr zu tun hat. An der Ecke zur Reeperbahn lockt das Erotic Laufhaus mit Erotic Lifestyle auf 400 Quadratmetern. Hat es Sie nie gestört, dass es in der Nachbarschaft Prostituierte gibt? Erna Thomsen lacht, vielleicht das erste Mal heute Abend. "Nein, ich habe damit ja nichts zu tun." Hat es denn nie wieder einen Mann gegeben? "Nein, mit drei Kindern heiratet man nicht mehr." Und sie fügt zufrieden hinzu: "Anträge gab es."

Sechs Jahre lang ist Manfred W. Jürgens immer wieder in den Silbersack gekommen, bis Erna Thomsen ihm den Zuschlag gegeben hat, Modell zu stehen. "Eigentlich hat das auch Nils, eine der Thekenkräfte, eingefädelt. Er sagte zu Erna eines Abends: ‚Erna, du könntest dich doch auch mal malen lassen.' Woraufhin sie nur leise antwortete: ‚Ja.'" Dann fotografierte Jürgens die Theke und Erna Thomsen. Fertigte Skizzen, während die Wirtin brav posierte. An dem eigentlichen Bild malte Jürgens neun Monate. "Die Technik ist 500 Jahre alt, wie in der Renaissance trage ich zwölf Schichten auf. Aber der Stil orientiert sich an der Neuen Sachlichkeit der 20er-Jahre", erklärt Jürgens, während ihm Erna Thomsen zuhört. Dann sagt sie: "Wenn ich gewusst hätte, wie lange das dauert, hätte ich nicht Ja gesagt." Das ist kein Vorwurf, eher eine uneitle Feststellung.

In den 50er- und 60er-Jahren boomte der Silbersack. Die 70er waren schwerer. Der Nachholbedarf war gedeckt. Es wurde weniger getrunken. Autos wurden gekauft, Familienväter sparten für den Urlaub, das Gehalt gab es inzwischen nicht mehr direkt in die Lohntüte, sondern aufs Girokonto, da war es sicherer vor dem Feierabend. Zudem wurden Fischfangzonen eingerichtet und Hamburger Reedereien wie Cranzer und Pickenpack gaben auf. Als Folge wurden viele Seeleute arbeitslos. Der Umsatz ging merklich zurück und Erna Thomsen musste Mitarbeiter entlassen. Die Stimmung aber blieb gut und im Silbersack wurde weiter gefeiert. Die Band The Jeremy Days, deutsche Pop-Helden der späten 80er-Jahre, feierten hier 1990 eine Party, nachdem sie monatelang in London eine Platte aufgenommen hatten. Die Szene von damals lud ein. Unter den Gästen waren auch der Avantgarde-Sänger Philipp Boa und der Ex-"Tempo"-Chefredakteur Markus Peichl. Und natürlich finden sich im Gästebuch von Erna Thomsen auch weitere Namen wie Heiner Lauterbach, Domenica, Ottfried Fischer ("Das ist meine Lieblingskneipe!") und Theater Star Eva Mattes.

Nun wird mit dem Bild von Manfred W. Jürgens die Gastwirtin Erna Thomsen selbst zu einer wichtigen Person. Wie finden Sie das? "Ich weiß nicht", sagt sie, "es wird ja nicht so lange dauern." Aber wenn so viele Leute kämen, werde wenigstens viel Geld in das Sparschwein von Ole von Beust gesteckt. Das Geld spendet sie für die Kinder des Stadtteils St. Pauli. Außerdem wird ein Team vom "Hamburg Journal" filmen. Auch Ulrich Tukur ist eingeladen, Corny Littmann, Otto Waalkes und sogar Freddy Quinn. Sein Lied "Junge, komm bald wieder" ist einer von Erna Thomsens Favoriten. Sie kennt die Nummer 148 auswendig.

Auf dem Bild thront Erna Thomsen wie ein Kapitän an der Reling. Vielleicht wird sie sich morgen hinter ihren Tresen stellen. Der schon immer wie eine Grenze zwischen ihr und ihren Gästen funktionierte. Ein Schutzwall vor Zudringlichkeiten und zu viel Privatem. 22.13 Uhr, die Kölner Gruppe wankt raus. Zwei Schweizer auf der Suche nach der "bestimmten Straße" kommen rein.

Hans Albers und Hildegard Knef sind tot, Erna Thomsen ist noch da.

Manfred W. Jürgens glaubt jedenfalls daran, dass sie alles meistern wird. "Erna Thomsen ist eine starke Frau. Deswegen habe ich sie auch gemalt."

61 Jahre, in denen Hans Albers gestorben ist, so wie Hildegard Knef und Domenica. Die Band The Jeremy Days nicht mehr berühmt ist und in denen ihr Sänger Dirk Darmstädter mit Glück noch mal im Vorprogramm auftritt. Ole von Beust Bürgermeister wurde und wieder abtrat.

Wollen Sie nicht langsam auch Ihre Ruhe, Frau Thomsen? "Wenn man 61 Jahre lang hier gearbeitet hat, kann man sich nicht einfach vor den Fernseher setzen." Und wen würden Sie hier noch gern als Gast begrüßen? "Helmut Schmidt. Das war der beste Bundeskanzler. Wenn der kommt, dann stelle ich ihm einen Aschenbecher hin." Und ganz vielleicht spielt dann die Musikbox die Nummer 148.

Ausstellung in der Kneipe. Vier Stunden lang wird der Maler Manfred W. Jürgens am morgigen Donnerstag sein Porträt von Erna Thomsen in der Kult-Gaststätte Zum Silbersack, Silbersackstraße 9, auf St. Pauli zur Schau stellen.
Von 20 bis 24 Uhr. Das Modell und der Maler sind anwesend. Das Bild ist in Öl und Eitempera in zwölf Schichten auf Leinwand auf Holz gemalt und hat die Maße 1,37 Meter mal 1,72 Meter. (diz)
Foto: Macelo Hernandez | www.marcelo-hernandez.de





Nr. 210 August 2010

AUSSTELLUNG Kurz

Hinz&Kunzt :: Das Hamburger Strassenmagazin


Hamburg


Diese Ausstellung ist ideal für Kulturmuffel: Gezeigt wird nur ein Bild und das nur einen Abend lang. Toll auch, dass man sich nebenbei etwas zu trinken bestellen kann. Denn der Hamburger Maler Manfred W. Jürgens zeigt sein Portrait der legendären Silbersack-Wirtin Erna Thomsen in der Kult-Kneipe. Beide werden anwesend sein. Das Modell wird vielleicht die eine oder andere Anekdote aus 60 Jahren hinterm Tresen zum Besten geben.


Zum Silbersack, Silbersackstrasse 9, Hamburg - St. Pauli
Donnerstag, 26.8.2010, 20-24 Uhr
Eintritt frei
www.hinzundkunzt.de










Vom Glück des Nichtstuns · Der trendresistente Maler Manfred W. Jürgens

Ulrich Schnabel

Galerie der Müssiggänger/innen · Querdenker, Pausenkünstler und Abwesenheitsexperten | Blessing Verlag · Kurzer Auszug aus dem Buch musse


Das Gedränge ist gross vor der Kneipe Zum Silbersack auf St. Pauli. Um die Ecke stehen die ersten Huren, wenige Meter weiter ist die Reeperbahn, überall lärmende Nachtschwärmer, angetrunkene Jugendliche und verschämt schauende Touristen. Doch im Silbersack drängen sich die Menschen heute Abend nicht wegen der Mädchen, der Musik oder des Bieres, sondern weil Manfred W. Jürgens zur 1. Hamburger Ein-Bild-Ausstellung geladen hat.

Ganz hinten in der Ecke sitzt der Maler mit den roten Locken, schreibt seit Stunden Autogramme und strahlt übers ganze Gesicht. "Unglaublich", ruft er durch das Stimmengewirr, "so etwas habe ich noch in keiner Galerie erlebt, alle zwei Stunden ein neues Publikum." Neben Jürgens hängt die Chefin an der Wand, die Wirtin Erna Thomsen, grossformatig in Öl und der echten Erna zum Verwechseln ähnlich. Denn Jürgens malt so akribisch und lebensecht wie weiland Albrecht Dürer oder Hans Holbein. "Sachlicher Realismus" nennt sich dieser Stil. Im hektischen Kunstbetrieb des 21. Jahrhunderts wirkt er etwas anachronistisch. Doch Jürgens ist das schnurz. "Kürzlich meinte jemand, ich sei trendresistent", erzählt er lachend und wiederholt geniesserisch das Wort: "Trendresistent – stimmt genau."

Denn Jürgens malt nicht nur so detailgetreu wie die alten Meister, er nimmt sich auch ebenso viel Zeit. Mit unendlicher Geduld trägt er Schicht um Schicht der (selbst gemischten) Farben auf. Bis zu zwölf Stunden täglich sitzt er mit Pinsel und Malstock vor der Leinwand, Monate vergehen, bis ein Bild fertig ist. So zu malen sei eigentlich "eine Frechheit dem Leben gegenüber" sagt Jürgens mit fröhlicher Selbstironie. Doch seine Frau Barbara, eine Bauingenieurin, unterstützt ihn finanziell nach Kräften. Und so darf der Maler nur auf die eigene Stimme hören. "Ich hoffe, nie in eine Situation zu kommen, um wegen des Marktes meinen Stil ändern zu müssen." Auch mit seinem Konzept der Ein-Bild-Ausstellung fällt Jürgens aus dem Zeitgeist. Sein Gemälde der Kuh Soraia präsentierte er auf einer Alp in der Schweiz. Zur Enthüllung auf 1900 Metern kamen Kunstfreunde aus aller Welt, Alpbauern und das Modell selbst. Als Jürgens die Kuh mit ihrem lebensgrossen Portrait konfrontierte, trottete diese auf die Leinwand zu und gab ihrem eigenen Abbild einen herzhaften Kuss. Wer bei diesem berührenden Event dabei war, erzählt noch heute davon.

Wie anders wirkt Kunst dagegen in einer Galerie. Kürzlich sei er im Louvre in Paris gewesen, erzählt Jürgens und verzieht das Gesicht. "Schrecklich! Man steht in der berühmtesten Gemäldesammlung der Welt und die Leute nehmen sich überhaupt keine Zeit. Sie hetzen da durch, lassen sich schnell neben der Mona Lisa fotografieren und schauen sie sich nicht einmal an". Geradezu deprimierend sei das gewesen. Mit dieser Art von hektischem Kunstgenuss will er nichts zu tun haben.

Bei Jürgens´ Aktionen dagegen wird niemand mit Eindrücken überfrachtet. "So viele entspannte Gesichter wie heute Abend habe ich noch nie vor einem Gemälde gesehen", sagt Jürgens und zeigt auf die fröhliche Menge im Silbersack. "Die Leute nehmen sich Zeit zum Schauen, man redet mit einander, niemand ist im Stress, weil er meint, auch noch alle anderen Bilder sehen zu müssen." Dass die 86-jährige Wirtin Erna Thomsen persönlich anwesend ist und man beim Bier mit dem Hamburger Original ins Gespraech über Kunst und Kneipengeschäft kommen kann, erhöht natuerlich den Charme des Abends. Denn Jürgens hat ein Auge für die unscheinbaren Helden des Alltags, und er malt stets nur Menschen, die ihm persoenlich etwas bedeuten. "Fieslinge und Selbstüberschätzer" lasse er nicht auf seine Leinwand, sagt er, für die übrigen nimmt er sich jede Menge Zeit.

So geht es nie nur um Kunst bei seinen Ausstellungen, sondern immer auch um Begegnungen. Und weil Jürgens schon alle möglichen Typen gemalt hat – Grufties, Prostituierte, Schauspieler, Journalisten – und diese auch gerne immer wieder seinen Einladungen folgen, trifft man kaum irgendwo auf ein bunteres Publikum. Der Abend im Silbersack jedenfalls wird noch lang und hinterlässt bei vielen Gästen mehr Erinnerungen als so mancher Besuch in der Kunsthalle. Gut möglich, dass der trendresistente Maler damit einen neuen Trend setzt.

Mit freundlicher Genehmigung des Blessing Verlags | www.randomhouse.de

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Manfred W. Jürgens

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