Überraschung!


Von einer völlig neuen Situation

Ein Traum wie Kraut und Rüben


Wir schreiben den 26. November des Jahres 2056. Auch heute besucht Benedict Wiesel eine Beisetzung seiner Wahl. Zu unserer Überraschung steht er an einem recht speziellen Ort, es ist ein stilles Stück Garten gelegen an der Garage des Nachbarn unseres Verstorbenen im Süden Wismars.

Die neue Gesetzgebung macht es möglich. Wir befinden uns auf dem ersten privaten Friedhof der Hansestadt.

Ich hoffe Sie hatten eine lebendige Woche. Jetzt sind wir wieder live dabei!

Aus gegebenem Anlass wohnen wir dem Begäbnis des in der letzten Woche völlig überraschend verstorbenen Malers Manfred W. Jürgens bei. Er verstarb am 20. November, einen Tag nach seinem 100. Geburtstag, in seinem Atelier an Überarbeitung. Glücklich fiel er beim Malen an der Staffelei zur Seite und direkt in den seit Monaten offen stehenden, gepolsterten Sarg.

'Seeliger Tod bei der Arbeit. Eine seltene Todesursache', sagte mir im Vorfeld sein Hausarzt Dr. Gründgens.

Wohnen wir nun dem Begräbnis bei. Die musikalische Begleitung übernimmt soeben Ulrich Tukur, einer der letzten Überlebenden dieser Generation. Jürgens liebte dessen Akkordeonspiel sehr, so dass er vor 46 Jahren die gesamte Band lebensgroß in Öl portraitierte.

Wir erleben ein durchaus ungewöhnliches Begräbnis. Auf Wunsch des Verstorbenen sitzt dessen Witwe auf ihrem hochgewachsenen, schlanken Pferd unweit der Trauergäste und fotografiert letztmalig ein Panorama für die Webseite des Wismarer Malers. Auch dem Pferd ist die Betroffenheit anzumerken. Der Schimmel gehört seit einigen Jahren zur Familie. Er wohnt in der umgebauten Autogarage am Apfelhof hinter dem Haus und wurde für den heutigen Tag durch die Friseurin Jacky neu eingefärbt. Es ist ein edles, mattseidenes Schwarz mit einem Hauch von Blau.

Warum findet die Beisetzung so spät statt? 'Tchja', so Nachbarin Renate: 'Dieser Typ war halt ein Eigenbrötler. Er wollte einfach nicht sterben'.

Gestatten sie mir ein paar persönliche Worte. Man kann aufrichtig sagen, dass er viel zu früh verstarb. Der letzte irritierende Satz des Malers lautete: 'Bitte ein kleines Mausoleum, eines das keiner betreten kann!'

Wer rollt denn dort durch die Blumenrabatte? Es ist der Hamburger Schauspieler Christian Redl im Rollstuhl, begleitet von seiner charmanten Frau Martina. Redl blufft gekonnt. Plötzlich springt er sportlich auf und begrüßt mit kargen Worten, gewohnt mürrisch, die Anwesenden. Der ewige Schauspieler zitiert unter sparsamen Tränen François Villon.

Wir sehen Nils C. Freytag und seine im vergangenem Jahr geehelichte Monika leicht verspätet auf feueroten Solar-Bikes aus Hamburg kommen. Es spielt die Big Band der Kreismusikschule 'Carl Orff'. Heitere Rhythmen sind zu vernehmen.

Anstelle von Blumengebinden tragen viele Gäste ihre eigenen Portraits. Bildnisse, die der Verstorbene in jungen Jahren von ihnen malte. Es sind zum Teil schwere, große, unhandliche Holztafeln, eingepackt in Luftpolsterfolie. Aber warum nur?

Im Vorfeld wurde uns freundlicherweise vom Schweriner Notar das Testament zugespielt. In diesem ist ein letzter Wunsch des Malers zu lesen. Ich zitiere: 'Bloß nicht ins Museum. Außerdem wünsche ich nach meinem Ableben weitgehend menschenleere Galeriewände im Haus. Ich nehme fast alle Bildnisse vertrauter, liebenswerter Menschen mit. Mögen sie mich auf meiner Reise durch die Dunkelheit begleiten.'

Die Zeiten ändern sich. Früher verbot die Stadt Blumenkübel vor Wismarer Häusern, heute erlaubt sie Grabstätten auf Privatgrundstücken. Die Bearbeitung des Bauantrages erfolgte ungewohnt schnell. 'Wir sehen hier eine geräumige Grabkammer', schwärmt Nachbar Thomas Bittermann. Von ihm stammt die ingenieurtechnische Planung, eine perfekt gemauerte, gut ausgeleuchtete, zweigeschossige Spezialanfertigung in den Maßen 3,70 x 2,50 m.

Ehrenwerte Malerkollegen wie Karmers und Altmeppen verfolgen amüsiert am Rande stehend das Spektakel. Auch ZEIT-Zeugen wie Ulrich Schnabel, Urs Willmann und Rainer Urban schmunzeln still vor sich hin.

Der Trauerzug setzt sich nun langsam von der Galerie aus in Richtung Grabstätte in Bewegung. Errichtet wurde diese an der Südwand der Garage des geschätzten Ingenieurs. Er musste dem Verstorbenen versprechen, dass er lebenslänglich an Sonntagen Blumen und Brennnesseln am Grab gießen wird.

Jetzt hängen in der Atelier-Galerie vorrangig Stillleben und Seestücke. Jürgens' letzter Wunsch: 'Die gemalten vertrauten Portraits schaffen mir eine stabile Grundlage für den Sarg in der Gruft'. Eine konkretere Ansage steht auch im Testament: 'Alle überlebenden Portraitierten versenken bitte persönlich ihre Portraits, die sie nie erwarben. Nun ist es zu spät für einen Ankauf. Bilder mit Tieren oder Pflanzen sowie Seestücke konnten sich selbst nicht erwerben, dürfen somit überleben und weiterhin die Galerie farbenfroh schmücken.'

Pastor Herbert Manzei ruft die einzelnen Bilder auf, mit denen der Maler beigesetzt werden möchte.

Ulrich Tukur und die Rhythmus Boys versenken mit verbittertem Blick die schwere Tafel ihres Bandportraits, vor dem sie 2021 in Schwerin auf einer Ausstellungseröffnung spielten. Da plötzlich ein greller Zwischenruf: 'Halt, halt!'' Es ist der Berliner Notar des Schauspielers. Aufgeregt ruft er: 'Hier, Herr Tukur, der Beweis.' Er zeigt auf seinem holografischen Pad den Trauernden einen Ausschnitt aus einem NDR-Interview aus dem Jahr 2015. In diesem sagte Jürgens: 'Der Tukur kann, falls er älter wird als ich, das Tafelbild erben.'' Welch eine Beisetzung! Der tosende Applaus gilt dem stolzen Notar.

'Zurück', ruft Tukur. 'Zurück, Jungs! Packt es wieder ein! Meine Frau Katharina schafft es mit ihrem Pickup noch in dieser Nacht zu unserem neuen Hauptwohnsitz am Schweriner See.'

Seit Jahren arbeitete Jürgens heimlich mit seinem Freund, dem Klempner Holger Wahls, an einer Salzsäuresprengleranlage. Ja, sie entwickelten eine, ich wiederhole mich gern, Salzsäuresprengleranlage.

Werte Hörer! Bedingt durch die Größe der Tafelbilder waren es aufwendige Baumaßnahmen.

Die dem Maler vertraute und einst geadelte Puffmutter senkt gerade die Tafelbilder ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen ehrfürchtig ab. Nun verschönern die sechs lebensgroßen Hurenbildnisse aufrecht stehend, selbstbewusst und farbenfroh die Außenwände der Grabkammer.

Weitere Gäste treten mit ihren Portraits heran. Es sind unter anderen Lucy Mae aus Venedig, Manfred Paul, Dirk Merbach und seine Tochter Marie aus Berlin sowie Saskia aus Alaska. Selbst der Weisse Dandy von St. Pauli ist gekommen. Auch er möchte diesem Spektakel beiwohnen.

Der legendäre Paul Millns versucht gerade sein Bildnis zu versenken, da ruft der Wismarer Buchhändler Jürgen Cremer trunklüstern in die Menge: 'Halt! Den Maler werden wir austricksen!' Unter seinem Arm trägt er einen Arm, einen in Öl gemalten. Diesen sägte der Maler einst vom Paul-Millns-Portrait ab, um seine Bildkomposition zu verbessern. Cremer triumphiert: 'Der Maler bekommt nur den linken Arm von Paul'. Er erhebt ein prall gefülltes Glas Rotwein und stürzt es genussvoll herunter.

Es folgen nun die gemalten Bürgermeister. Der ewige Bürgermeister von Groß Stieten und ein ehemaliger Wismarer mit kurzer Regentschaft.

Aufregung nebenan. Chefsekretärin Uta zieht sich dreimal in der Nachbargarage um. Sie trägt stolz die Kostüme der jeweiligen Portraits. Drei umwerfende Bildnisse malte Jürgens von ihr. 'Zum Glück wurde ich nicht noch öfter gemalt', murmelt sie in die Menge. Rauchend steht sie nun am Grab und geniesst ihren ersten Joint des Tages.

Zum Schluss singt die vitale Ruth Rupp: 'Und so kommt zum guten Ende, alles zu ihm in die Gruft'. Der Sarg mit dem Leichnam ruht nun auf seinem über viele Jahrzehnte selbstgefertigten Bilderberg.

Erlauben sie, werte Hörer, einen weiteren Auszug aus dem Maler-Testament: 'Im Falle meines zu befürchtenden Scheintodes ist ein auch in sargiger Dunkelheit deutlich sichtbarer Notknopf zu installieren. Als Schutz vor Grabschändung, wird sich die bereits erwähnte Salzsäureberieselungsanlage bei Öffnung von Außen einschalten und mich sowie meine Portraits umgehend vernichten. Von Innen ist mir eine Öffnung natürlich jederzeit säuerefrei möglich'.

Nun schliesst sich die Grabkammer. Ein kleiner schwarzer Solar-Bagger rollt leise heran, füllt das Grab mit Sand und dann mit Erde. Drohnen setzen zwei Rüttler ab. Diese verdichten umgehend das Erdreich. Wilder Rasen wird ausgerollt. Viele der Eltern und Großeltern der anwesenden Gärtner und Bauarbeiter besuchten jahrzehntelang die Saurier-Disco des Verstorbenen.

Aus der Garage nebenan wird stolz der dreieckige Grabstein herangeschafft, den der Maler dort seit mehr als dreißig Jahren aufbewahrte. Er ist das Gesellenstück eines geschätzten Wismarer Steinmetzes der Firma Burgfrieden. Das steinerne Werk ist ein ästhetisch schlankes Dreieck auf Löwentatzen. Mittelpunkt des Carrara-Steines ist ein gläsernes Oval, hinter dem der Maler in besten Jahren glücklich mit einen Glas Rotwein den Betrachter begrüßt. Die Inschrift: 'Ich befürchte, das Leben ist schön.' Darunter ein QR-Code, der zur Webseite des Malers führt.

Welch ein Grabstein. Welch ein Grabstein! Großartig! Nun ist die Trauergemeinde zu einem kleinen Büffet auf dem frisch ausgerollten Rasen geladen. Edle Getränke werden vom Team des Reuterhauses gereicht.

Was ist denn das? Aufwendige Technik baut sich auf. 'Die Party geht weiter!' steht unter dem projezierten Regenbogen. Diese kurzweilige virtuelle Auferstehung war der absolut letzte Wunsch des Verstorbenen. Alles wurde von ihm als Hologramm sorgfältig vorproduziert. Lebensecht steht er nun wie einst als DJ hinter seinem Pult und ruft in die Menge: 'Oh man, dass ich das noch erleben darf! Hier ist die Saurier-Disco! Werte Disco-Gemeinde, lasst uns tanzen! Vor uns liegen ultimativ dreizehn gemeinsame letzte Stunden. Schüttelt das Haupthaar!' Nele, Ella und Lina, Vertraute aus der Nachbarschaft, jubeln. Ältere schütteln empört und völlig fassungslos die Köpfe.

Schwere Motorräder rollen heran. Keiner der trauernden Gäste kann dieser Party entfliehen. Das Anwesen ist plötzlich von Türstehern aus Hamburg umstellt. Zu Lebenszeiten freundete sich der Verstorbene mit ihnen auf St. Pauli an, wo er einst mit seiner Frau wohnte.

Doch plötzlich: Ein lauter Schrei hallt durch die tiefe Finsternis: 'N E I N !'
Es war ein Albtraum. Ich wache schweißgebadet auf, quäle mich aus dem Bett und laufe verwirrt durchs Haus. Alle Bilder sind noch da.

Ein Blick auf den Rechner. Ich sehe das Datum. 'Verdammt! Seit heute bin ich Rentner.'

Bild oben: Kraut und Rüben, Lasur und Mischtechnik auf Leinwand auf Holz, 50 X 150 cm, 2008
Bild unten: Grabstein 2056
Text und Grabstein © MWJ, Wismar, 01.10.2022





Newsletter Malerei, Manfred W. Jürgens Wismar

Podcast
Malerei