Am Eingang ist Warten angesagt. Der korrekt gekleidete Capo Cameriere kommt mit charmantem Lächeln auf uns zu. Buongiorno. Schöner kann man es nicht sagen. Wir folgen ihm durch das Tischlabyrinth. Er dreht zwei Kaffeetassen um. Ein erneutes Lächeln. Prego. Grazie.
Wie oft er diese Worte in seinem Leben bereits sagte und hörte, ja auch noch sagen und hören wird. Sind wir Gäste für ihn noch menschliche Wesen?
Wird sich hier etwas verändern, wenn er eines Tages in Rente geht?
Maestro, Sie sind auch heute wieder gut gelaunt! Was soll ich machen, es ist mein Job. Bisher habe ich noch alles unter Kontrolle. Er fügt leiser hinzu: Bisher.
Außer uns frühstücken hier momentan siebzig weitere Hotelgäste. Gegenüber vom üppig und abwechslungsreich gefüllten Buffet hängen zwei alte Ölschinken. Vergilbte, großformatige Landschaften bemühen sich, an die Romantik zu erinnern. Keiner der Gäste bemerkt sie. Acht prachtvoll verzierte, riesige Kronleuchter erstrahlen. Ihre Formen finden sich in den Ornamenten der großen Fenster zum Flur wieder. Alles versucht, verblühten glamourösen Charme zurückzuholen.
Riesige erblindete Spiegel schauen betrübt in den Raum. In der Nachbarschaft gigantische handbemalte Vasen. Beige und Sandtöne kommunizieren mit hellgrünen Wänden. Die heutigen 20-er Jahre erinnern oft an jene im vergangenen Jahrhundert. Oder ist es umgekehrt? Spürbar ist ein seltsamer Mix aus Hoffnung und Zuversicht, Armut und Gewalt, Verunsicherung und Verzweiflung, Hochmut und Stillosigkeit. Wie schade, dass Egozentrik und Vereinsamung zunehmen. Wo bleibt die täglich sich neu erfindende, positive Aufbruchstimmung?
Es begegnet mir ein seltsamer Akustikmix aus Teller-, Tassen- und Besteckgeklimper. Aus der Decke dudelt die gleiche Playlist wie an den Vortagen.
Cannonball Adderley, Terence Trent D’Arby und gleich kommt Elton John. Bis zu Adriano Celentano und U2 sind es noch zehn Minuten. Hier spielt man noch Originale.
Gesprächsfetzen aus mindestens acht Sprachen flirren durch die Luft.
Sobald der Blick vom Teller weicht, füttern Smartphones die müden Hirne. Flüchtiges Wischen auf Minischirmen eröffnet für Arm und Reich, Jung und Alt den erwachenden Tag. Unerbittliches Klingeln, Technotöne oder auch das Bellen eines Handy-Hundes hallen durch die Frühstücksrunde. Farbenfroh gekleidete Mädchen zeigen sich kichernd neue Katzenfotos.
Links am Buffet tönen die High Heels einer sichtlich frisch Gelifteten mit pechschwarz gefärbten Haaren. Rechts das Schlurren eines Herrn in meinem Alter. Oh Mann, denke ich, bei mir ist auch der Lack ab.
Hilflos steht ein kleiner Junge am Getränkeautomaten. Er trippelt hin und her. Wie funktioniert das bloß, andere bekamen hier doch auch etwas zu trinken. Warum erzählt ihm keiner, dass man nur das Glas gegen den Metallbügel drücken muss. Eine wunderschöne ältere italienische Dame mit riesigem roten Halstuch erkennt sein Problem, nimmt zu dessen Verwunderung seine Hand und hilft. Seine Augen leuchten. Es folgt ein verschüchtertes Grazie. Sofort genießt er den ersten Schluck Saft und füllt allein nach.
Junge Gäste präsentieren schon zum Frühstück riesige Markennamen oder seltsame Sprüche auf ihren Shirts, machen sich freiwillig zu wandelnden Litfaßsäulen.
Dort ein Zwei-Meter-Jüngling mit weißem Pudel auf dem Haupt. Das Auge Gottes verziert seinen T-Shirt-Rücken. Auf den Unterarmen chinesische Schriftzeichen. Ob er diese versteht?
Am Nebentisch murmelt ein alter Mann: 'Guck mal, ein Kind mit Bart'.
Gestern saß ein fülliger Herr mit kurzen Hosen am gleichen Tisch. Auf seiner rechten Wade war das Tattoo einer Dose Red Bull zu sehen. Genial gestochen und farbig wie räumlich brilliant.
Einer fällt aus der Rolle. Er trägt stolz das Foto eines Mischwalds auf seinem Hemd zur Schau.
Schwergewichtig wankt eine Frau am Tisch vorbei. Um ihren Hals trägt sie auf dunkelblauer Bluse einen vergoldeten Baby-Schnuller. Ich denke, Halleluja, wenn das Mode wird und frage meine Frau: 'Habe ich mal wieder einen Trend verpasst'.
Auffällig ist, dass hier nur wenige Weibchen Kurzhaarfrisuren tragen. Im Vorbeigehen höre ich eine Dame über die großartigen Fähigkeiten ihres Friseurs berichten. Eine andere lobt ihren Schönheitschirurgen und weist mit sanfter Handbewegung auf Partien in ihrem Gesicht. Die Verwandten staunen still mit großen Augen. Ein Kind hält sich die Hand vor den Mund.
Dort zwei elegante hungrige Sportler. Sie sehen aus wie von einem fremden Stern. Vermutlich sind sie gerade gelandet. Woher sollte sonst ihre Verwirrtheit stammen. Je älter die Pensionäre, desto krass-bunter und reicher an mit Technik gefüllten Design-Seitentaschen laufen sie auf. Wie mögen die zu Hause gebliebenen Frauen aussehen?
Es fehlt nur die Webcam am Stirnband für den Frühstücks-Livestream ins Netz. An jedem Handgelenk wenigstens eine Uhr mit Abhör- und Scanfunktion. Irgendwann werden Versicherungen diese Werte simultan abrufen und bei Regungslosigkeit Beitragserhöhungen in der Onlinebrille bissig anmahnen. Für bewusst Schwergewichtige reicht dann ein kurzes Klopfen gegen die KI-Brille und die Erhöhung ist akzeptiert.
Gerade wird einem jungen Paar ein Tisch zugewiesen. Sie tragen bereits zum Frühstück grellgrün spiegelnde Sonnenbrillen. Brillen im Allgemeinem wurden in letzter Zeit immer größer. Fast alle Bebrillten tragen derzeit schwarz auf der Nase. Ich auch. Blond eingefärbte Frauen dagegen neigen zu roten Brillengestellen, passend zu Kleid und Lippenstift.
Aber die schönste schwarze Brille trägt eine junge schlanke Kellnerin mit weißem Hemd, elegant geschnittener Weste und schwarzer Fliege. Ihr jugendliches Gesicht mit den kurzen dunklen Haaren erinnert an einen Zauberer. Wir nennen sie Frau Potter.
In Fellinis 'Roma' aus dem Jahr 1972 gibt es eine wegen schwerer Entzündung an den Eierstöcken ans Bett gefesselte, sehr voluminöse weibliche Gestalt. Ein derart selten kompaktes Wesen belehrt gerade lautstark ihre Großfamilie. Sie sitzt am Nebentisch etwas abseits. Mit ihren wichtigen Handbewegungen würde sie ansonsten den Tisch abräumen. Ein langer schwerer Ohrring schlägt beim Gestikulieren ständig gegen den Hals. Es scheint sie nicht zu stören. Verwechselt sie agieren mit regieren? Zwei Kinder sehen sich mit schmalem Mund heimlich an. Sie warten sichtlich auf das Ende der wortgewaltigen Morgenansprache.
Ein Mann im besten Alter vom Typ Dittsche erscheint im Morgenmantel. Unter diesem blitzt ein alter, grau gestreifter Schlafanzug hervor. Warum hat ihm keiner gesagt, wo er ist. Andere, mit industriell zerrissenen Jeans, wirken neben ihm gut eingekleidet.
Wieder ist ein Kind zu beobachten, das beim Essen von seiner Mutter stumm geschaltet wurde. Es sieht auf deren Smartphone einen Trickfilm. Nervös zappelt es mit den Beinen und sieht rosaroten Dinos und fliegenden Herzen gelangweilt hinterher. Vielleicht hätte es sich gern unterhalten.
Eine unzufriedene Dame mit samtig schwarzen Handschuhen taucht seit Minuten ihren Teebeutel ins erkaltende Wasser. Sollte sich jemand erbarmen und ihr die Speisekarte vorlesen, so wie der glatzköpfige Herr am Nebentisch, der gerade seiner Frau diese mit dunkler Stimme rezitiert. Ihr Gesicht erzählt 'Der einfachste Weg wäre der zum Buffett‘. Sie atmet tief durch und bleibt sitzen.
Auf Fingerspitzen trage ich stolz meinen gefüllten Teller zum Tisch. Frau Potter lächelt, deckt gekonnt und elegant freie Tische neu ein. Nie zuvor sah ich Tischdecken in Ziehharmonika-Manier treffsicher und sanft über Tische fallen. Sicherlich gibt es in der Gastronomie für diese magische Fähigkeit einen Fachbegriff.
Eine schlanke Frau mit wunderschöner, üppig-krauser Haarpracht setzt sich an den Tisch nebenan. Mit einer derartigen Frisur benötigt man nachts kein Kopfkissen. In der Mimik meiner Frau lese ich: 'Bitte erzähl ihr das nicht'.
Ist es Zufall, dass in dieser Zeit vermehrt junge, durchtrainiert wirkende Männer mit Dreitagebart und kurzem dunklen Haar eng anliegende armeegrüne Pullover tragen? Auf dem Weg zum nächsten Brötchen sehe ich einen Herrn, der sich mit einem Smartphone-Video bei einem Kumpel in russischer Sprache über die Ukraine lustig macht.
Ein Grauhaariger betritt im hellen Pelzmantel, auf den Chef wartend, den Eingang zum Saal. Alles an ihm ist lupenrein weiß, ein wahrer Hingucker, halt ein Herr. Er kommt nicht, er erscheint.
Plötzlich fällt einer molligen Dame das Handy aus der Tasche. War der galante Eisbär der Grund? Beim Bücken legt ihr kurzer, grau ausgefranster Modepelz vor ihm ein riesiges Tattoo mit Rosen und Stacheldraht um ihre Hüften frei. Gestern trug sie Grün, Ganzkörpergrün. Frau Laubfrosch weiß sich in Szene zu setzen.
Die Masse guckt weiterhin satt und erschlafft auf kleine Bildschirme. Großmütter telefonieren gut hörbar mit ihren Enkelkindern, weltweit. Zuvor schickten sie allen Bekannten Fotos vom Obst und von den Brötchen. Versandte Fotos mit künstlichem Lächeln als Ausdruck sozialer Teilnahme. Schnell noch das Salatblatt gerade gerückt, damit auch alle wissen: Oma ernährt sich gesund. Danach ein paar Selfies leer und flach dahingegrient. Weg damit. Früher überspielte man Unsicherheit und Langeweile durch das Rauchen einer Zigarette. Das war auch nicht gesund. Heute wischen Paare stundenlang gelangweilt jeder für sich auf handlichen Schirmen.
Ein stummes älteres Ehepaar scheint glücklichere Zeiten erlebt zu haben. Die Freude aneinander ist sichtbar verflogen. Warum fahren sie noch gemeinsam in den Urlaub? Sehen so maulende Rentner aus? Werden wir eines Tages auch so verwelken? Der Gatte erinnert mich an Professor Abronsius in Polanskis Horrorkomödie 'Tanz der Vampire'. Die Hoffnung steigt, dass dieser Tag für zumindest für einen doch noch vergnüglich wird. Jetzt schärft er mit einem Zahnstocher seine oberen Eckzähne.
Nebenan wischt sich ein Mädchen mit der Innenhandfläche von unten nach oben die Nase trocken. Ihre Oma mit steil aufgetürmter Frisur zeigt sich empört und stirnrunzelnd. Mit schrägem Kopf isst der Opa mühsam sein Spiegelei. Zwischen Schulter und Wange klemmt seit zehn Minuten sein tönendes Smartphone. Was mag da wichtiger sein als ein leckeres Frühstück?
Unscharf träume ich mich zurück ins Jahr 1916. Das Grand Hotel, in dem wir sitzen, wurde vor mehr als einem halben Jahrzehnt eröffnet. Ein brandneues Grammophon mit riesigem messingfarbenen Schalltrichter spielt für die Frühstücksgesellschaft leise den aktuellen neapolitanischen Hit ’O sole mio’, gesungen vom jungen Enrico Caruso. Um mich herum sitzen Damen mit geschmackvollen langen seidenen Kleidern. Ich bewundere ihre außerirdisch anmutenden Frisuren. Auf einigen Köpfen trohnen Hüte mit exotischen Obstimitaten. Thema des Morgens ist der gestrige Abend mit dem dreißigköpfigen Tanzorchester. Herren in Uniformen, teils mit Monokel, umschwärmten die Damen. Heiße Rhythmen heizten der gehobenen Gesellschaft ein und halfen, die kriegerische Realität kurzweilig zu vergessen.
Da blendet sich ein weiterer Tagtraum ein. Wie wird das Morgen hier aussehen, wenn KI gewinnt? Sicherlich gibt es dann aus der Küche geruchlose Druckergeräusche zu hören. Stammgäste erkennen schon am Sound des Druckers, welches frisch ausgeworfene Gericht zeitnah vom freundlichen Roboter mit der aufgedruckten Krawatte serviert wird. Der Mensch schaffte es, sich zu großen Teilen selbst abzuschaffen. Köche und Kellner waren schon lange nicht mehr zu bekommen. In der Küche sitzen völlig überforderte Programmierer.
Eine Mini-Drohne namens Colibri ermittelt pickend den Alkoholwert der gechippten Gäste. Ein Aufleuchten in der Tischplatte zeigt sofort das Ergebnis. Grün bedeutet, es gibt noch ein Gläschen. Bei Gelb begleiten zwei Roboter den Gast umgehend, aber diskret zu seiner Schlafzelle. Bei Rot wird Hausverbot erteilt und es gibt Minuspunkte auf dem Sozialverträglichkeits-Chip unter der Kopfhaut.
Zurück ins Heute. Wie nach jedem Abendessen sitzen wir mit einem Glas Wein an der Hotelbar, besser gesagt, im riesigen Flur nebenan mit den roten und schwarzen Sesseln und dem gedimmten Licht. Auch andere Gäste empfinden die Bar optisch nicht so prickelnd. Allabendlich sitzt dort gelangweilt der Nachtportier. Auf einem Bildschirm flackert tonlos Fußball. Es ist üblich geworden, die Hitschleifen aus dem Netz mit weichgespülten Girlie-Interpretationen zu dudeln. Den Sicherheitsbeamten scheint dies nicht zu stören. Er schlief bereits vor einer Stunde glücklich schräg im Ledersessel ein.
Am Nebentisch wird gerade die Bestellung aufgenommen. Eine Jüngere bestellt mit spitzem Mund und erhobenem Kopf einen Martini. Ihre Freunde ordern leise Weißwein. Kurze Zeit später serviert die freundliche Bardame. Sofort surft die Martini-Trinkerin auf ihrem Handy und zeigt den anderen ein Martini-Foto. Vermutlich ist ihr hier die Olive zu klein oder der Grünton stimmt nicht. Sichtlich enttäuscht nippt sie am Glas.
Es ist Montag. Wir Gäste sind sichtbar verunsichert. Suchende Blicke, vergebens, keiner möchte uns platzieren. Das Personal albert herum, die Stimmung ist aufgelöster als in den vergangenen zwei Wochen. Es wird mehr und auch laut gelacht. Der Oberkellner scheint heute frei zu haben. Oder ging er bereits in Rente?
Würde es eine Woche so weiter gehen, so gäbe es am Frühstücksbuffet nur noch Cola in Anderthalb-Liter Flaschen und aufgeplatzte Bockwürste mit einem Klecks Senf auf grauen Papptellern. Auch auf Tischdecken würde man bald verzichten.
Meiner Frau kommt der Gedanke, dass der Chef am heutigen Tag undercover unter uns weilt, so wie einst Louis de Funès in 'Scharfe Kurven für Madame‘ aus dem Jahr 1966. Er wollte in seinem renommierten Gourmetrestaurant wissen, wie sein Personal ohne ihn tickt, besuchte mit Perücke verkleidet seinen Nobelladen und bestellte beim Kellner ein Radieschen. Tatsächlich, er bestellte ein einziges Radieschen und wartete ab.
Beim Auschecken an der Rezeption sehe ich mich letztmalig im Grand Hotel um und es ploppt in mir die unbeantwortete Frage auf 'Warum haben schöne Frauen oft kleine dicke Männer an ihrer Seite?‘
Mit Zwischenstopps in den Dolomiten, in München und Gera fahren wir runderneuert aus unserem Gardasee-Urlaub zurück nach Wismar. Auf der Staffelei warten 'Krähen im Schnee'.