Die kleine Nachbarin


Von einem Brief aus der Nachbarschaft
Geschichten, die das Leben schreibt


Mein Freund der Klempner meinte, wenn sich da ein Tourist gegenlehnt, kracht er in deinen Garten und bricht sich die Knochen. Er hatte recht. Es wurde Zeit, den Zaun vor unserem Haus zu erneuern, und auch die Pfeiler wünschten sich schon lange neue Farbe.

Auf der anderen Straßenseite wohnt die kleine Nachbarin. Als wir 2017 zurück nach Wismar zogen, trug ihre Mutter sie noch unter ihrem Herzen. Später sah ich von der Staffelei im Atelier, wie die Kleine an der Hand der Mutter ihre ersten Gehversuche machte.

Am Zaun gegenüber stand nun die Dreijährige, sah mir seit einiger Zeit interessiert zu und rief dann: 'Du Nachbar, musst mal rüber kommen, ich darf hier nicht raus, sagt Mama, wegen den Autos, die matschen mich sonst platt’.

Amüsiert ging ich zu ihr und hörte sie fragen: 'Was machst du da, du Nachbar, malst du da was an?‘ Sie sprach es so aus, als sei sie die kleine Schwester von Helge Schneider. Das Spiel mit dem lächelnden Lispeln schien ihr sichtlich Freude zu bereiten. Oma fand das befremdlich. 'Ja, ich bin Maler und auch Maler.' 'Ach so‘, entgegnete sie und blinzelte mit großen Augen. Da kam mir die Idee, ihr ein Buch zu schenken, das ich kürzlich mit einer befreundeten Fotografin herausgegeben hatte. Ihr Staunen sagte Danke und ich widmete mich wieder meinem Zaun.

Am Nachmittag rief sie mich erneut zu sich. 'Nachbar, du bist ganz, ganz wuselig, du Maler. Weisst du da oben', sie wies auf die Gaube im Dach, ’da ganz oben, siehst du, ich muss da noch aufräumen und dann kannst du dort einziehen. Weißt warum? Ich hab nämlich ganz, ganz viele Buntstifte. Dort können wir dann abends immer zusammen malen.’ 'Tja, darf ich Dir zuvor noch meine Bilder zeigen?' 'Sofort, Mama und Oma kommen gleich mit.‘

Es folgte eine kurze Führung durch die Galerie. 'Na, das ist wohl noch nichts für Kinder.‘ Ihre Mutter nahm sie beiseite, als sie vor dem Bild meiner Lucretia stand. Die an mich gerichtete leise Antwort des Mädchens: 'Na gut, nächstes Mal guck ich länger'. Und so war es dann auch. Beim zweiten Besuch, nun war sie bereits vier, lief sie sofort zum Bildnis der Lucretia, staunte ungewohnt lang und stumm. 'Weisst Du Nachbar, vor diesem Bild könnte ich immer wieder und ganz, ganz lange stehen.’

Die Stimmung in der Straße erschien mir als Mecklenburger Halbsachse recht unterkühlt. Alle siezten sich. Kaum einer wußte, was der Nachbar beruflich machte. Norddeutsche können jahrelang nebeneinander wohnen und kriegen nur zögerlich ein ‘Moin!‘ heraus. So schlug ein Freund, 2021 hatte ich seine Tochter portraitiert, ein Nachbarschaftstreffen vor. Er kommt ursprünglich aus Süddeutschland. Der Turnplatz am oberen Ende der Straße mit seiner parkähnlichen Atmosphäre schien uns geeignet. Wir luden per Flyer ein, verteilten diese persönlich. An den ersten Abenden schafften wir es nur jeweils eine Einladung los zu werden. Man lud uns zum Wein ein und wir blieben gern plaudernd im Garten sitzen. Nach einer Woche verteilten Kinder aus der Straße die restlichen Zettel.
Dann war es soweit. Ein Gasgrill wurde gestellt. Jung und Alt kamen mit Essen und Getränken, brachten Campingstühle und Bänke mit. Mehr als vierzig Bewohner feierten sich fröhlich in die Dunkelheit. Zur Weihnachtszeit folgte ein vertrauterer Teil zwei.

Plötzlich war die Atmosphäre in der Straße eine völlig andere. Mutter und Oma der kleinen Nachbarin luden eines Abends zum Glühwein auf ihrem Hof ein. Sofort ergriff die Kleine meine Hand und begleitete mich zum Tisch. Seit einiger Zeit nennt sie mich Manny.
'So, wir spielen jetzt.' Sie war mit kleinem Spielzeug gut vorbereitet. Nach einer Stunde flüsterte sie mir mit vorgehaltener Hand ins Ohr 'Du, Manny, ich muss dir unbedingt etwas verraten. Du weisst ja, dass Mama ein Pferd hat. Jeden Tag fährt sie da hin. Weisst Du wie ich das Pferd nenne? Scheiss Gaul!’ 'Oh, bist Du eifersüchtig?‘ 'Ja, ein bisschen schon.'

Im Sommer, ich fegte gerade den Weg zur Galerie, rief sie aus dem Fenster ihres Kinderzimmers ’Manny, Manny, ich hab da was. Diesen Brief für Dich habe ich selbst geschrieben’. Natürlich nahm ich ihn in Empfang, bedankte mich und wünschte einen schönen Tag.

Im Atelier begutachtete ich den wild zusammengefalteten Zettel. Er war etwas zerknittert. Vermutlich trug sie ihn schon eine Weile mit sich herum. Außen in hellblauen Buchstaben ein erster Schreibversuch ihres Vornamens. Um ihn herum aufgeklebte Abziehbilder. Eine Königskutsche, ein kleiner Marienkäfer, ein Schmetterling und eine Rose umsäumen eine Märchenprinzessin mit Herzen auf dem Kleid. Innen ein mit Tuschkastenfarben selbstgemaltes geheimnisvolles Wesen mit grünem Bauch. Flott gemalt die stilisierte Sonne. Die Gestalt mit kantigem Kopf spielt mit einem Ball. Am Rand ein herausgeschnittenes Loch. Dreht man das Blatt um, so könnte es auch eine Pflanze im Blumentopf sein. Diesen 'Brief' muss ich unbedingt aufheben!

Nun ist sie fünf. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Meine Frau und ich waren drei Wochen im Urlaub. Ich blickte über die Straße zur kleinen Nachbarin. An der Hand der Oma war sie auf dem Weg und rief mir laut zu: 'Du Manny, du hast doch hoffentlich noch meinen Brief von früher. Wenn der weg sein sollte, so verprügel ich dich, ordentlich!’ 'Du meinst so‘, ich hielt meine Faust unter mein Kinn. 'Ja genau!' Wir lachten laut und die Oma meinte: 'Sie ist noch etwas aufgedreht, jetzt geht es erst einmal in den Kindergarten.' Mein Kommentar: ’Wenn's danach geht, so gehöre ich auch dort hin’.

Text © MWJ, Wismar, 25.03.2023
Malerei © Die kleine Nachbarin, 09/2022