Im Kalender steht seit kurzem Februar. Auch in diesem Jahr führt uns die Sehnsucht nach Ruhe und Gelassenheit an den Gardasee. Die Einsamkeit in der Natur hat etwas religiös Heilendes. Erneut nächtigen wir in Riva del Garda.
Zu dieser Zeit versucht sich der Ort zu erholen, wird momentan nicht vom Massentourismus zur apokalyptischen Sommerhölle auserkoren. Ein Aufatmen der Einheimischen ist deutlich spürbar.
Wie im vergangenen Jahr stehen wir im Hotel wartend auf den Capo Cameriere am Eingang zu seiner Bühne, dem großen Speisesaal. Schön, dass es beide weiterhin gibt! Der luxuriöse Stil des Hauses wird durch ihn vorgegeben. Wir erkennen einander. Er begleitet uns zum Tisch, lächelt kopfnickend und dreht die Tassen mit den Öffnungen nach oben. Prego. Grazie.
Unter den zwei erblindeten Spiegeln thronen nach wie vor die riesigen Vasen und Suppenschüsseln mit schweren Deckeln. Wurden diese blaubemalten Schaustücke je benutzt?
Welch ein interessantes Schaulaufen am Büffet. Selbstverliebte neben Verunsicherten. Durcheinanderlaufende Ameisen sind weniger hilfesuchend unterwegs.
Gerade stellte ich mir vor, wie Heinrich Mann Anfang des 19. Jahrhundert hier in Riva im Sanatorium des Dr. von Hartungen akkurat gekleidet und gut frisiert mit frisch gezwirbeltem Schnauzbart einst speiste. Die Kleiderordnung hat sich seit Manns Zeiten etwas geändert.
Heute, im Jahr 2024, scheinen hier neue Stile prägend zu sein. Der eine hüllt alle Generationen, gleich welcher Körpermasse, in schwarze extrem figurbetonte glänzende Kleidung und möglichst, wenn nicht schon naturell beschenkt, wird auch das Haupthaar in tiefes Schwarz getaucht. Den zweiten Trend umschrieb eine Dame am Nebentisch mit 'Generation Müllbeutel'. Sie meinte, viele ähneln einem Michelin Männchen mit zwanzig Hüften. Langes, glatt geföhntes blondes Haar gehöre ihrer Meinung nach unbedingt dazu. Ein dritter Trend beschränkt sich auf die weibliche Welt. Es ist das stilvoll hingeworfene Umhüllen mit einer Art Tischdecke, an der lange Fäden ranken. Gelegentlich sehe ich Muster, die ich aus Omas Wohnzimmer kenne. Aber auch Jugendstilornamente sind im Kommen. Außerdem: Frau hüllt sich gern in quietschbuntes Teddyfell. Sportliche Plateauschuhe und Schlaghosen mit eingenähten Dreiecken sind wieder im Kommen.
Ältere Herren, barfüssig in fluoreszierenden Schlappen, schauen ausdruckslos auf das freundliche Personal herab. Warum gehen einige mit grell bunt spiegelnder Sonnenbrille und gestreiftem Morgenmantel frühstücken. Was wollen uns diese Wesen damit sagen? Jüngere tragen dunkle Kapuzen und mimen düstere Blicke schon zu Tagesbeginn.
Ein Dickbäuchiger mit dem Gang eines Profiboxers versucht sich in deutschem Italienisch einen Teller Spiegeleier bei der freundlichen Kellnerin mit dem dunklen Teint zu bestellen. Ihr umwerfendes Lächeln übertrifft alles. Wir nennen sie 'Die Sphinx‘. Aufmerksam reicht sie einem Kleinkind die Serviette. Es hat sich beim Joghurtessen das Gesicht bis zu den Ohren beschmiert.
Frisch gecremte Gesichter glänzen allmorgendlich unter den Kronleuchtern. Extrem lange farbige Fingernägel, auch Nuttenschaufeln genannt, sind voll im Trend. Alle bemühen sich, bis über die Peinlichkeitsgrenze hinaus jung und schön zu sein. In diesem Jahr sind mehr frisch gestrichene Damen mit Botoxlippen am Start. Was ist das für eine seltsame Mode. Welches Internetportal, welcher Fernsehsender hat ihnen das eingeredet. Warum vernichten sie in ihren Gesichtern gelebtes Leben. Selbst achtzehnjährige Mädchengesichter sind auf dem Weg zum Entenschnabel.
Unfassbar schön erscheint mir dagegen die ungeschminkte ältere Dame mit kurz geschnittenem grauen Haar am kleinen Nebentisch. Sie schenkt mir ein kurzes Lächeln. Ich erwidere gern. Erriet sie soeben meine Gedanken?
Einer recht üppigen Dame fällt gerade ein vom Büfett entnommenes Brötchen vom Teller. Sie nimmt ein weiteres und schwebt weiter mit erhobenem Haupt hinüber zu den Kaffeeautomaten. Mein Blick wendet sich zum Kellner neben ihr.
Aus großer Entfernung ruft ein Mann seiner Frau das Wort Kuchen zu. Die Augen der Gäste suchen nach seiner dunkel gekleideten Angetrauten, deren zartes Hinterteil mit mehreren hundert Glasperlen bestickt ist. Ein kleiner hinter ihr stehender Knirps schmunzelt über das Schwingen der funkelnden Sternchen. Mode schreckt vor nichts zurück.
Seit zehn Minuten belehrt eine Schöne mit wild toupiertem roten Haar gut hörbar ihren Partner. Er isst mimikfrei sein viertes Brötchen. Wird er im nächsten Jahr allein in den Urlaub fahren?
Farbenfroh geschminkt sitzt ein junges Wesen uns gegenüber. Gerade taucht ihre mühsam gestylte lange rechte Haarlocke beim Essen in den Kaffee. Ihren Freund amüsiert das. Er reicht ihr seine Serviette.
In weißem Hemd, dunkler Weste mit schwarzer Fliege tritt nun eine Kellnerin an unseren Tisch. 'E tutto ok?‘ In ihren hochgesteckten Haaren leuchtet heute eine karminrote Schleife. Gestern war es eine hellblaue. Ihr stolzer Blick hat etwas hypnotisch Forderndes. Am ersten Tag tauften wir sie auf den Namen 'Die stolze Spanierin‘.
Gerade betritt ein kleiner Mann mit kurzen Beinen und wundervoll geföhnter Stirnlocke die Frühstücksszenerie. In welchem Land mag er Bankdirektor sein? Auffällig schimmert der Schriftzug ’NASA’ auf dem Shirt eines anderen Herren mit grauem Haupt. Meiner Frau murmel ich leise zu: 'Der war nie auf dem Mond‘.
Das riesige Büfett wird durch Porzellanfiguren aufgelockert. Dort zwei Papageien zwischen den Früchten, hier eine weiße Truthenne an der Schokoladenquetsche. Der Hit ist ein wunderschöner, sich beim Krähen aufplusternder Hahn an den Marmeladenspendern. Große Mädchenaugen sehen staunend zu ihm auf. Vielleicht wünscht sich die Kleine, dass er für sie das Wort 'Marmelade' kräht. Andächtig, wie beim Empfang einer Oblate, warten Gäste am Küchentresen auf ihre frisch gebratenen Spiegeleier.
Italien trägt einen der großartigsten musikalischen Schätze in sich. Warum dödeln nun auch hier, wie allabendlich in den Restaurants der Altstadt, die ewig gleichen schlecht gecoverten Hits, die sich lediglich dadurch auszeichnen, dass keine Verwertungsgebühren à la GEMA zu zahlen sind. Welch trauriger Sieg der Beliebigkeit.
Nebenan fotografiert ein sehr dünnes altes Männchen seinen reichlich gefüllten Obstteller und postet ihn sogleich. In meiner Vorstellung ist er der Vater von Hauself Dobby aus Joanne K. Rowlings Potter-Geschichten.
An einem der Fenstertische entdecke ich eine verbitterte Steinalte mit dunklen Augenringen. Ihr Blick lässt in mir einen Schwarz-Weiß-Krimi ablaufen. In diesem erlegte sie vor drei Tagen beim Frühstück lustvoll ihren letzten Liebhaber mit dem Käsemesser. Umgehend verscharrte sie ihn erleichtert im Keller ihres Mecklenburger Reihenhauses. Ein guter Grund, um entspannt in diesen Urlaub zu fahren. Momentan legen im Untergeschoss ihres Hauses vertraute Handwerker schwere Carrara-Bodenfliesen aus. Mit grauer Schürze und leuchtenden Augen fragt ein Kellner, ob er die leeren Teller abräumen darf. Sie reagiert nicht.
Im Kinderwagen am Eingang schreit ein Kind. Die Mutter reicht ihm ihr Smartphone. Sofort ist Ruhe. Sie gibt die Erziehung an eine Maschine ab. Ihr Mann greift zu seinem Telefon. Mama, das Essen ist vorzüglich. Wie ist das Wetter auf Sizilien? Ja, ich schicke Dir ein Foto Deiner Enkelin! Nein, ich vergesse es nicht. Versprochen.
Mit gekonnt hochgesteckten Haaren erinnert mich ein gut aussehender Rastamann an einen Springbrunnen. In seinem Haar betont eine Sonnenbrille seine nicht versiegende Coolness.
Am Einlass erscheint ein junger Mann, der seine im Rollstuhl sitzende Mutter schiebt. Er trägt ein sanftes Lächeln im Gesicht und sie eine rote Papierblume im Haar. Hinter ihnen wartet selbstbewusst eine Dame, die ein Jugendfoto von sich auf dem bedruckten T-Shirt trägt. Den Betrachter verführt dies zum ständigen Vergleichen.
In starrer Haltung geht eine Frau mittleren Alters rückwärts um den Kuchentisch. Am Ende der zweiten Runde greift sie zu. Das kleine Stück 'Torta di mele' trägt sie wie einen Goldbarren zum Tisch. Der Schlitz auf der rechten Seite ihres roten Kleides reicht bis zur Hüfte. Ihr Mann starrt unbeirrt ins Smartphone.
Ein kleines Mädchen mit wuscheligem kurzen Haar schlendert mit ihrem Teddy zum Tisch, an dem ihre Familie auf sie wartet. Die Sphinx fragt, ob sie einen Kinderstuhl für das große Plüschtier holen darf. Die Kleine verneint mit einem Kopfschütteln, kichert kurz mit spitzem Mund über diese Idee und überlegt. Nun schreitet sie neugierig alle Stationen des Büfetts ab, fasziniert bestaunt sie die Technik der Automaten, eilt gezielt zurück zum Tisch, nimmt die Getränke-Bestellung der Eltern auf und zapft sogleich gekonnt Säfte und Kaffee. Stolz spielt sie die Rolle der Kellnerin im Grand Hotel.
Wie versteinert steht ein großer Mann im Rentenalter hilflos vor dem leckeren Überangebot. Er ist absolut überfordert. Sicherlich wurde ihm am heimatlichen Frühstückstisch alles im gleichen Muster seit Jahrzehnten von seiner Gattin aufgedeckt. Endlich mit der essbaren Beute am zugewiesenen Tisch zurückgekehrt, schweigt sich das Paar eine halbe Stunde lang regungslos an. Nun schreiten sie gelangweilt in den sonnigen Tag.
Auch in diesem Jahr gilt es außergewöhnliche Tattoos zu bewundern. Auf dem Oberschenkel einer Kurzberockten sehe ich einen leckeren Burger. Was will sie ihrem jungen bärtigen Freund damit sagen? 'Schau her, wie appetitlich ich bin!' Oder: 'Beiß rein, Alter!' Ebenso erstaunt sehe ich auf den Hals einer älteren Mutter. Sie trägt auf der Rückenpartie majestätisch das Wort 'Family'. Gedanklich sehe ich vor mir ein Altersheim mit flackerndem Reklameschriftzug 'PunkHotel Ü90', in dem uralte schwerhörige Menschen mit geschmackvollen Ganzkörpertattoos drönend Punkmusik hören. Das junge Personal trägt Ohropax.
Jugendliche eines Sportvereins laufen nun in einer Reihe Richtung Büffet auf. Übermüdete Gesichter erzählen von einer durchzechten Nacht. Die Fußballshirts tragen farbenfroh den Schriftzug SV Landgut. Auf ihren Rücken werben sie für einen Rinderzüchter. Auch alte Menschen mit sichtbaren Rückenproblemen erscheinen heute in sportlicher Kleidung. Ein Zusammenhang zum Trainingslager der Fußballer ist nicht ersichtlich.
Eine überstylte Blonde mit einem wunderschönen langen Hals winkt aufgeregt einen Kellner heran. Ihr durchtrainierter Mann baut sich auf und empört sich über den fehlenden Pfeffer am Tisch. Die hungrigen Körper krümmen sich nun für eine viertel Stunde, um sich ihren Smartphones zu widmen. Sie präsentiert ihm alle drei Minuten neue Katzenfotos. Er zeigt sich leblos unbeeindruckt. Mit einem sparsamen Kopfnicken entscheidet er sich für einen erneuten Weg zu den Kaffeemaschinen.
Oft fühle ich mich wie ein Penner, der den ganzen Tag analytisch Menschen beobachtet. Nun beugt sich die satte Masse kurzsichtig in Richtung Smartphone. Man spricht nicht mit dem Partner, sieht emotionslos an ihm vorbei. Warum lebt die Mehrheit das Leben der angeblich sozialen Medien und nicht das unmittelbar gemeinsame im Hier und Jetzt? Welche Zwangsmechanismen stecken hinter diesen süchtig machenden Geräten?
Schwarze Brillengestelle des Vorjahres sind auf den Nasen der internationalen Gäste weiterhin sehr präsent. In diesem Jahr sind sie noch größer und auch kantiger. Es kommt die Zeit, in der alle übergroße Bildschirmbrillen tragen werden. Die Konzerne werden ihnen einreden, dass es gut ist, sich chippen zu lassen, denn nur so kann der willenlose Konsument auf sein hinderliches Smartphone verzichten. Herden von Ferngesteuerten irren dann wie Zombies durch diese Welt.
Beim Anblick eines Säuglings holt der Capo Cameriere sofort den Kinderstuhl und baut charmant ein Gespräch mit den Eltern auf. Italiener sind beim Anblick eines Bambinos spontan verzückt. Alternde Männer genießen es, ihr Enkelkind zu präsentieren. Andere halten einen Finger hin und hoffen, dass es zugreift. Die Sphinx streckt gern mal lächelnd die Zunge heraus und wartet auf Erwiderung. Wangen werden gestreichelt, Bäuche gekitzelt, mit Zeigefinger und Unterlippe erzeugen Verwandte gesampelte Blubbergeräusche und tragen auch Gästen an Nebentischen Freude in die Gesichter. Warum begegnet man alten Menschen nicht in gleicher Weise. Auch das wäre unterhaltsam und würde mein altes Gemüt erfreuen. Oh, ein Rentner, ein Rentner …
Dass heute über mich im Saal geschmunzelt wird, hat seinen Grund. Man erkennt den Weintrinker vom Kreisel. Mauro, ein schwergewichtiger 54-Jähriger sitzt bei gutem Wetter gern mit einem Ghettoblaster und alter Musik auf der Parkbank am Kreisverkehr unweit des Hotels. Hier spielt er für die Passanten laut seine Musik und freut sich, wenn diese sich freuen. Im vergangenen Jahr begegneten wir uns erstmals. Er ist der ungewöhnlichste DJ, den ich je kennenlernte.
Gelegentlich setze ich mich mit einem Glas Wein zu ihm und wir plaudern über Musik vergangener Zeiten. Er moderiert seine Hits. So ruft er winkend Passanten, Fahrrad- und Autofahrern zu: 'Hört hin und erinnert Euch an meinen Freund Caruso!' Oder: 'Wir alle lieben Verdi, ja, die Musik ist es, nicht das Geld und auch nicht die Politik, die uns glücklich macht! Freunde, denkt beim Lieben daran!' Selbst die Carabinieri winken uns gläserschwenkenden Sängern zu. Das Hotelpersonal erkennt natürlich die riesigen Rotweingläser aus ihrer Bar.
Mauro spielt ein Liebeslied von Vittorio Belleli, 'Cosa Farai di Me' aus dem Jahr 1942. Die Titelzeile lautet 'Was wirst du mit mir tun?' Im Text heißt es 'Wenn ich an deine Liebe denke, zittere ich - Pensando al tuo amor, tremo'. Ein junges Paar schlendert umarmt vor uns vorbei. Mauro ruft ihnen zu. 'Guten Tag Ihr Schönen. Mama Mia, Junge, welch zartes Wesen du in deinen Armen hältst. Mein Kompliment an die Mutter!‘ Schade, dass Vittorio Belleli heute diesem Spektakel nicht beiwohnen kann. Gern hätte ich ein drittes Glas für den Maestro entwendet. Für mich ist es ein zu höchst unterhaltsam absurdes Theater, das auch den Hotelgästen und dem Liberty-Personal nicht entging. Da ich kürzlich Mauros Hut trug, nennt mich das Personal heimlich 'Der Mexikaner'.
Beim Verlassen des Frühstücksraums reicht uns Maurizio, der neue Chefkellner, die Hand. Ihm hatte ich kürzlich erzählt, dass wir heute abreisen. Auf Wiedersehen, Manfredi, bis zum nächsten Jahr. Die Spanierin lächelt mir ein charmantes 'Ciao' zu. Auch die Sphinx ist an ihrer Seite. Nun traue ich mich es ihr sagen: 'Wir lieben Dein Lächeln. Arrivederci, Grazie.' Sollte sie im nächsten Jahr noch hier arbeiten, so werde ich sie fragen, ob ich sie malen darf.
Text © MWJ, Wismar, 29/02/2024
Foto oben © Bärbel Koppe 2024, Riva und Torbole