Eines der ersten Bücher meiner frühen Kindheit war ein kleiner Dürer-Bildband. Er war mein absolutes Lieblingsbuch. Über Jahre lag er im Kinderzimmer unter meinem Kopfkissen. Dort entdeckte ich Dürers Holzschnitt aus dem Jahr 1498: ❯ Das Sonnenweib und der siebenköpfige Drache .
Es erstaunte mich, welch große Flügel die Frauen zu Dürers Zeit trugen. Auch Kinder flatterten mit lockigem Haar, nackig ohne zu frieren, weit oben auf den Wolken herum. Die Vergangenheit schien mir recht turbulent gewesen zu sein.
Und da war der speiende Drache. Ähnliches Verhalten sah ich erstmals auf einem Erntefest im Dorf nebenan. Es war ein an die äußere Hauswand des Tanzsaals in Wüstenmark gekrümmt stehender Bauer mit Würgegeräuschen. Er erinnerte mich an meinen Drachen. Aber er speite kein Feuer.
Ich fragte mich: Wie konnte der Dürer-Drache mit sieben Köpfen glücklich sein. Mir reichte die Verwirrung in meinem einen völlig aus. Mein Lieblingsdrachenkopf des Holzschnitts war der mittlere, der mit dem Blick einer Ziege. Für mich war es der zufriedenste. Andere hatten aggressive Gesichter. Die fand ich zwar interessant, wollte mit ihnen jedoch keinesfalls befreundet sein.
Mein Favorit hatte etwas der Welt entrücktes. Oft träumte ich davon, dass mich der riesige Dürer-Drache nachts beschützte. Im Traum passte er jahrelang in meinen absurden Abenteuern auf mich auf. Der Siebenköpfige verlor allmählich nicht nur seine Zähne, sondern auch seine Köpfe. Vieleicht zog er sie auch nur ein. So genau weiss ich es nicht mehr.
Jedenfalls blieb ihm in meiner Fantasie nur der mit dem Ziegenkopf. Er war ursprünglich dunkelgrün geschuppt, später wuchs ihm kuschlig warmes Ziegenfell. Dieses wusch er sich gelegentlich im Teich am Waldrand unweit meines Elternhauses. Natürlich durfte ich ihm dabei zusehen. Diese Kindheitsträume sind noch heute zu grossen Teilen abrufbar, brannten sich als Erinnerung ein. Mein riesiger Freund war immer dabei.
Mehr als ein halbes Jahrhundert später, im Frühjahr 2014, lud man meine Frau und mich als Gäste zu einem dreitägigen Symposium der ❯ Stiftung Leucorea nach Wittenberg ein. Lucas Cranach der Jüngere und sein anstehender 500. Geburtstag waren das Thema. Auch die Signatur der Familie Cranach wurde ausgiebig wissenschaftlich seziert. Friedrich der Weise von Sachsen verlieh 1508 der Familie Cranach das Signet mit geflügelter Schlange und Rubinring im Maul.
Als Kind sah ich in diesem Fimenzeichen einen kleinen Drachen mit lustigen Fledermausflügeln. Warum er am Rubin rumknabberte, war mir unklar. Manchmal dachte ich, vielleicht male ich mir als Erwachsener auch so ein Zeichen, aber dann ohne diesen teuren Ring.
Nach dem Wittenberger Symposium war es nicht mehr zu verhindern. Ziege, Drache und Schlange verschmolzen zum neuen Signet.