Bosse im Wald


Lasur- und Mischtechnik auf Leinwand auf Holz, 85 x 90 cm, 2015/17

Von Omas Geburtstag, meiner erster Begegnung mit dem Tod und von einem Kindheitstraum


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Ein kurzes Vorwort. Später geht es dann natürlich um Malerei.

Mein Vater war Mecklenburger. Und ich bin es heute noch. Meine Mutter kam aus der Nähe von Wurzen. Viele Sommer meiner Kindheit verbrachte ich bei den Großeltern im sächsischen Pausitz an der Mulde. Heute weiss ich, das meine Mutter vor den Kriegsneurosen meines Vaters floh.

Meine Grosseltern waren Tabakbauern. Ich liebte sie sehr. Als diese sahen, dass ich ständig zeichnete und malte, schenkten sie mir, ich war erst knapp fünf Jahre alt, einen grossen teuren Ölfarbkasten, Malmittel und Pinsel mit langen Stielen. Nie zuvor hatte ich derartiges gesehen. Wie geht man damit um?

Oma hatte Geburtstag und ich wünschte ihr eine eigene überdimensionale Geburtstagstorte. Also eine, die ihr niemand wegessen konnte, die wunderschön ist und nur ihr gehört. Die keiner der laut Gackernden hastig herunterschlingen kann. Auch nicht die Nachbarinnen, die mich immer an Ihre grossen Busen rissen und streichelnd meine rotgelocktes Haar würdigten. Es war fürchterlich. Wer waren diese vielen fremden Frauen, deren Sprache ich damals nicht verstand.

Im sächsischen Dorf gab es einen beliebten Bäcker, der sich auch als Konditor einen Namen gemacht hatte und der Bemerkenswertes zauberte. Bei ihm durfte ich einmal in der Backstube zusehen, wie er Torten kreierte. Jetzt kannte ich einen hoch interessanten Typen. Für zehn Pfennig gab es bei diesem Zauberer eine grosse, dreieckige, ockerfarbene Tüte namens Bruch. Das waren zerbrochene Kekse, nun ja Keksreste, die er sonst nicht verkaufen konnte.

Nun bastelte auch ich eine Torte. Ein in der Scheune gefundener grosser Pappkarton wurde zerschnitten. Eine Papp-Umrundung schenkte den zwei ausgeschnittenen Kreisen rundum Stabilität. Den Klebstoff nannte man Kittifix. Nun nutzte ich den gesamten 24-tubigen Ölfarbkasten für die recht cremige und farbenfrohe Gestaltung. Es war ein Freude, die Tuben im Kreis zu leeren. Meine Torte war wunderschön! Sie wollte nur nicht so recht trocknen.

Es gab grossen Geburtstagsärger wegen der nach Terpentin stinkenden Pseudo-Torte, die ausserdem meinen neuen Matrosenanzug und die goldene, grossmaschige Tischdecke im niedrigen Wohnzimmer des Bauernhauses versaut hatte. Aber ich fand das witzig und verstehe bis heute nicht den tagelangen familiären Ärger um meine farbenprächtige Torte.

Meine erste Arbeit in Öl hatte aber auch etwas Gutes. 'Der Ölfarbkasten war wohl eine Fehlentscheidung', sprach der Grossvater. Das hörte sich in etwa so an: 'Der Bängel muss wohl erstmal was Richtsches sähn!'

Übersetzt hiess das: 'Da gibt es doch unweit eine berühmte Galerie. Dort hängen diese teuren Gemälde von den steinalten Meistern'. So empfahl er, für mich zeitnah eine Reise nach Dresden zu planen. Eine mir bis dato unbekannte Dame holte mich wenige Tage später ab und fuhr mit mir im Zug nach Dresden.

Am Eingang der Gemäldegalerie Alte Meister begrüßte sie das Personal. Man kannte sich offenbar. Morgens um neun stellte sie mich in die Sammlung mit den Worten: 'Um sechs hol ich ihn hier wieder raus'.

'Hier haste vom Opa fünf Mark.' 'Wenn er Hunger hat, holt er sich von Stand da draussen ne Bockwurschd und kommt wieder rein. Wir haben das gerade draussen geübt. Der hat n Knall, den kannste wochenlang vor Bilder stellen. Ich sag Dir: Der langweilt sich nicht. Das klappt schon', und sie verschwand bis zum Abend.

So eröffnete sich für mich die faszinierende Welt der Malerei, die Welt der Alten Meister. Das war noch viel spannender als die Geschichten der Gebrüder Grimm. Mein Mund stand offen: Wie wunderschön die Eva ist, welch lange Beine. Heute weiss ich, dass ich vor einem Cranach stand. Nie zuvor hatte ich eine so geheimnisvolle nackte Frau gesehen. Die Landfrauen zu Hause sahen auch bekleidet völlig anders aus. Und das dort ist wohl der König, der mit dem Bart und dem schönen Pelz. Nein, das ist Charles de Solier, gemalt vom Holbein. Gelegentlich stand eine Aufseherin neben mir.

'Kannst wohl noch nicht lesen!' Sie entlockte mir ein leises kopfschüttelndes 'Nöh, aber bald komm ich in die Schule!' Gucke mal hier und guck mal da. 'Warum ist das kleine Kind da denn so grau?', fragte ich. 'Wir gehen davon aus, dass Herr Dürer das schlafende Jesuskind nach einem toten Baby gemalt hat'.

Oh Gott! Da ploppten sie wieder auf, die Erinnerungen, die Ereignisse. Der Tod war vor einem Jahr, ich war knapp vier Jahre alt, erstmals mein Thema. Seitdem denke ich fast täglich über ihn nach.

Einst, ich war knapp vier Jahre alt, fand ich beim Spielen im Wald, unter herbstlichem Laub verborgen, einen hellen verwitterten Tierschädel. Diesen trug ich am Abend als frisch geputztes Fundstück stolz nach Hause ins elterliche Wohnzimmer. Mein Vater meinte: 'Das war eine alte Sau, eine Wildsau'.
Ich staunte. 'Was?' 'Ja, das war einst ein lebendes Wildschwein.'

Wildschweine hatte ich schon oft von weitem gesehen. Wir wohnten am Waldrand. Mein Opa hatte mir erzählt, dass Wildschweinmänner große Zähne an den Seiten haben mit denen sie gern Kinder aufpieken. Ich hatte große Angst vor ihnen. Sie erschienen mir immer wütend, auch unzufrieden, konnten verdammt schnell laufen und wühlten vor Neugierde viel umher. In einem Alptraum jagten sie mich noch Jahrzehnte später durch den dunklen Wald.

Aber das hier sollte der Rest von einem Wildschwein sein? Es erfüllte mich mit Trauer. Mehr sollte nicht bleiben wenn Tiere sterben? Oh es sind schon noch ein paar Knochen mehr. Du hast nicht alle gefunden.
Meine leise Frage war: Und wir, wir Menschen, was bleibt von uns? Mmh, so die Antwort, wer weiß das schon so genau.

Es gab Abendbrot und ich verstummte für den Rest des Tages.

Das war meine erste Begegnung mit dem Tod. Viele weitere sollten folgen. Aber an diese erste intensive fühle ich mich oft erinnert und wollte diese Erfahrung eines Tages in einem Bild erzählen. So suchte ich lange nach einem staunenden, knapp vier Jahre alten Jungen. Ich wollte nicht mich malen.

Von einem Spaziergang mit Schwiegermutters Hund brachte meine Frau mir vor einigen Jahren einen vom Hund gefundenen Wildschweinschädel mit. Ein Ameisenhaufen war nicht in der Nähe, also kochte ich den Schädel ab. Es stank fürchterlich.

Den Jungen in meinem Bild traf ich Jahre später.
Es ist der Sohn eines Kollegens meiner Frau. Er saß für dieses Bild im Atelier mit dem Schädel Modell. Ihm erzählte ich meine Geschichte und dass der Schädel noch viele Jahre in einem Regal meines Kinderzimmers zu sehen war. Irgendwie standen ihm die Haare zu Berge und ich sah einen Mix aus Staunen und Erschütterung.

Als Bosse das Bild entstehen sah, meinte er: 'Du malst mich, aber ich saß doch gar nicht, nie saß ich in so einem Wald mit dickem Baum. Das war doch in deinem Atelier'.

Ja, so ist Malerei. Alles ist möglich und irgendwie ist jedes Bild auch ein Selbstbildnis.

Abschliessend nun kurz zurück zu meinem ersten Besuch einer Galerie, der Dredener Gemäldegalerie Alte Meister.

Am Abend gab mich die Unbekannte wieder beim Grossvater auf dem Dorf ab. 'Und, wie wars?' Mein überglückliches Nicken reichte ihm. Meine Reiseleiterin sah ich nie wieder.

Erschöpft und glücklich sank ich ins Federbett. Welch ein ereignisreicher Tag. Natürlich begriff ich das am Tag meistgehörte Wort Renaissance nicht, konnte den Zeitraum von 500 Jahren damals nicht erfassen. Wer kann das schon! Aber ich hatte mich beim Staunen in Dresden entschieden: Ich werde Maler! So wie die Alten möchte ich auch leise Geschichten von Menschen erzählen.

Und so träumte ich mich mit einem Wunsch in die Nacht: Velleicht steht in 500 Jahren wieder irgendwo auf der Welt ein kleines Kind in einer Galerie, dann vielleicht sogar vor meinen Bilden, und sagt sich: 'Egal was passiert, egal, ich werde Maler'.




Realistische Malerei heute, Manfred W. Jürgens Wismar

Der Aufbau von
Imprimitur, Untermalung
und Lasuren

Realistische Malerei heute, Manfred W. Jürgens Wismar

Bosse im
Atelier
in Wismar

Erna Tomsen, Zum Silbersack, Manfred W. Jürgens

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